Projekt unter Leitung von Prof. Norbert W. Hinterberger und Silke Feldhoff M.A.
Für den Westeuropäer bezeichnet »Rote Exotik« die Wirkung von (post-) kommunistischen und (post-) sozialistischen Gesellschaften. Überall dort, wo sich diese Ideologie in Alltagskultur niederschlägt, wird vom schillernden Begriff »Rote Exotik« gesprochen.
Im Sommer 2005 reiste eine Gruppe von Weimarer Kunststudenten nach Litauen und beschäftigte sich mit »roter« Alltagskultur. Standorte waren Vilnius (Wilna) – seit 1990 Hauptstadt der nach zahlreichen Besetzungen und Annektierungen erneut unabhängigen Republik Litauen – und der 130 km südlich von Vilnius liegende Grutas Park, im Volksmund auch »Stalin Park« genannt. Seit der Unabhängigkeit von 1990 hat der Westen Einzug in die Republik Litauen erhalten und seine Spuren hinterlassen. Der Umgang mit dem Westen ist widersprüchlich und spannungsreich. Im Alltagsleben prallen Ost und West aufeinander und finden ihre neuen Erscheinungsformen.
»Go West« von Christina Hirschberg zeigt einen nach Vilnius importierten, alten Mercedes-Bus, der mit den litauischen Nationalfarben (gelb, grün, rot) verziert wurde. Das sich spiegelnde Farb-Ornament am Kotflügel (»Go West I«) spielt mit der nationalen Identität Litauens. Die Übermalung des Mercedes-Sterns an der Radkappe (»Go West II«) verkleidet hingegen ein typisches Statussymbol des Westens. Das Automobil als Fortbewegungsmittel symbolisiert den Drang gen Westen und die Sehnsucht nach westlichen Standards. Der Aufbruch in die Zukunft ist längst vollzogen. Ob nun in litauischen oder in Reggae-Farben, die Forderung bleibt dieselbe: Friede, Freiheit und Gleichheit für Litauen als Teil der Europäischen Union.
Mit der Installation »Nachwuchs« deutet die Künstlerin den historischen Zwiespalt an, in dem junge Menschen in Litauen aufwachsen. Ein weißes Miniaturhemd hängt verloren auf einer Wäscheleine, die quer durch den Ausstellungsraum gespannt ist. Auf der Vorderseite des Hemdes ist das litauische Staatswappen aufgedruckt, auf der Rückseite befindet sich das Wappen der Litauischen Sozialistischen Sowjetrepublik (SSR). Von 1940 bis 1990 war Litauen eine Sozialistische Sowjetrepublik. Heute sind die Litauer stolz auf ihre hart erkämpfte Unabhängigkeit – hier symbolisiert durch das litauische Wappen auf der Brust.
Die Bügelperformance »Stalin-Hitler« von Christina Hirschberg thematisiert den Umgang der Litauer mit ihrer eigenen Geschichte. Zwanzig Minuten lang bügelt die Künstlerin eine Flagge der Litauischen SSR und übersät sie mit Bügelbildern. Nur mühsam glättet das Reisebügeleisen die große Flagge auf dem Tischbügelbrett. Bügeln ist eine Geste bürgerlicher Tradition. Es nimmt die Falten der Vergangenheit und brennt sich in die Struktur des Stoffes ein.
Das Motiv des Bügelbildes zeigt eine Spielkarte, die das Wechselverhältnis von Befreier und Besatzer ausdrückt. Ursprünglich zierte die Karte mit Stalin und Hitler ein litauisches Plakat von 1989 aus Vilnius (Quelle: Werben für die Utopie: russische Plakatkunst des 20. Jahrhunderts). Das »Verunreinigen« der Flagge mit Bügelbildern ist Ausdruck eines respektlos-trotzigen Umgangs mit einem ehemaligen Hoheitszeichen. Heute werden Flaggen aus der Besatzerzeit auf Flohmärkten an Touristen verkauft.
Litauen wurde im Verlauf seiner Geschichte gleich dreimal besetzt: Sowjetunion, Nazis, Sowjetunion. Den Litauern wurden Heimat, Ehre und Name genommen. Das Gewalterbe der Nazis und der Stalinkultur ist bis heute eine unverheilte Wunde. Die Bügelperformance legt eine bestimmte Form der Vergangenheitsbewältigung offen. Die Besatzerzeit konnte bisher nur durch Remythologisierung oder Ästhetisierung in Litauen überwunden werden. Vor allem von Stalin konnten sich die baltischen Staaten nicht befreien, ohne ihn ästhetisch zu wiederholen.